Hans Georg Pflüger, deutscher Komponist

Hans Georg Pflüger, deutscher Komponist Hans Georg Pflüger, deutscher Komponist

Horst Koegler

Stuttgart, 11.6.1999


Zum Klingen bringen, was nicht gesagt werden kann

Der Komponist, Organist und Kantor Hans Georg Pflüger


Einen Frühvollendeten wird man ihn nicht nennen können, bedenkt man, daß Mozart ganze
sechsunddreißig Jahre vergönnt waren, und daß Schubert bereits als Einunddreißigjähriger
starb. Gleichwohl traf es nicht nur die Familie, den Freundeskreis und die Bekannten, sondern
die Musikszene weit über seinen Stuttgart-Bietigheimer Wirkungskreis hinaus wie ein Schock,
als sie erfuhren, daß der am 26. August 1944 in Schwäbisch Gmünd geborene Hans Georg
Pflüger am 9. März 1999 nach kurzer Krankheit, von der außer den engsten Angehörigen nie-
mand etwas wußte, an seinem Wohnsitz gestorben war. Denn vollendet war da nichts - weder
privat, nachdem er erst relativ spät eine eigene Familie gegründet hatte, und schon gar nicht
professionell, da er - um ein Wort Dürers zu paraphrasieren – innerlich so voller Töne und
Klänge war.

Immerhin zählt sein Werkverzeichnis sechzig verschiedene Kompositionen - von seinem Opus
1, einem Liederzyklus nach Friedrich Hölderlin aus dem Jahr 1966, bis zu seinem posthum
zwei Monate nach seinem Tod uraufgeführten „Patchwork“ für Streicher und Schlagzeug. Als
Eckpfeiler seines Oeuvres sind beide Werke auf ihre verschiedene Weise bezeichnend für
Pflügers geistigen Horizont, der weit über seinen engeren Zuständigkeitsbereich als Kirchen-
musiker hinaus reichte und sein intensives Interesse sowohl an der Literatur wie an der Bilden-
den Kunst bezeugte - was jedem Besucher seines Hauses sofort klar wurde, wenn sein erster
Blick beim Entree auf die dichtbestückten Bücherwände und die Freiflächen mit den großfor-
matigen modernen Bildern und den davor postierten Skulpturen fiel. Zwischen Hölderlin also
(zu dem er auch später mehrfach als Inspirator diverser Lieder zurückgekehrt ist) und Jackson
Pollock als Vertreter des Action Painting mit seiner Technik des Durchdringens und Zerfließens
von Flächen und Linien erstreckt sich der Kosmos dieses Werkkatalogs, den er selbst in sei-
nem Verzeichnis nach den Kategorien Oper, Ballett, Orchesterwerke, Oratorium, Kammermu-
sik, Lieder, Chormusik, Tasteninstrumente und Bearbeitungen aufgeschlüsselt hat.


Wie eng gerade auch seine Beziehung zur Bildenden Kunst war, erhellt nicht zuletzt sein
freundschaftliches Verhältnis zum Bietigheimer Galeristen Rudolf Bayer, der als Chef der Bay-
er-Records auch der Produzent seiner zahlreichen CD-Aufnahmen war.
Nichts hatte bei Pflüger, der aus einem alles andere als musischen Elternhaus stammte und im
Gespräch nur zögerlich durchblicken ließ, was für ungute Erinnerungen er an seine Kindheit
hatte, auf seine künstlerischen Ambitionen hingedeutet, es sei denn, daß er eben mittels der
autodidaktisch erworbenen Kenntnisse im Klavier- und Orgelspiel der häuslichen Misere zu
entfliehen trachtete. Die Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit, die ihn in allem auszeichnete, was
er einmal anpackte, führte allerdings dazu, daß er schon als Siebzehnjähriger Preisträger beim
Klavierwettbewerb des Deutschen Tonkünstlerverbandes Stuttgart wurde und ein Jahr später,
noch vor seinem Abitur, bereits seine erste Komposition, eben die Hölderlin-Lieder, veröffent-
lichte, deren Titel „Hälfte des Lebens“ sich gottlob doch nicht als Wegmarkierung seines Le-
bens erwies, denn da war er immerhin erst zweiundzwanzig.


Nichts wurde ihm geschenkt, und so mußte er sein Studium hart erarbeiten: 1965 bis 1967
an der Stuttgarter Musikhochschule als Kompositionsschüler von Henk Badings, dem er auch
danach noch lange Jahre eng verbunden blieb, später dann auch als Orgelschüler von Karl
Richter in München. Prägende Eindrücke vermittelten ihm Meisterkurse in Liedgestaltung bei
Hubert Giesen in Salzburg, für Komposition bei Wolfgang Fortner in Heidelberg und, mit einem
Stipendium der italienischen Regierung, im Orgelspiel bei Fernando Germani an der Accade-
mia Chigiana in Siena. Seinen ersten Job trat er 1970 als Organist an der Liebfrauenkirche in
Stuttgart an - noch bevor er sein Kirchenmusik-Diplom in Regensburg und sein Orgeldiplom
an der Musikhochschule in Wien erwarb. Nicht genug damit, studierte er auch noch an den
Universitäten in Tübingen und Freiburg Musikwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte.
Eine analytische Untersuchung über die beiden Fassungen von Hindemiths „Marienleben“ war
wohl als eine Studie auf dem Weg zur Erlangung des Doktorgrades gedacht, doch daran hin-
derte ihn der Zwang zum Geldverdienen und seine Verpflichtungen als Stuttgarter Kantor.
Einen gewissen Freiraum, den er zum Komponieren nutzte, gewährten ihm zwei Stipendien:
1977 an der Villa Massimo in Rom und im Jahr darauf die eben eingerichtete Kunststiftung
Baden-Württemberg. Wie so vielen anderen deutschen Künstlern vor ihm ist ihm Rom zu ei-
nem schicksalhaften Ort der Identitätsfindung geworden - die er dann allerdings nicht am Tiber,
sondern in Venedig weiterbetrieben hat, bei seinen Ferienaufenthalten in der Lagunenstadt.


Bedenkt man den Zeitaufwand seiner kirchenmusikalischen Alltagsaktivitäten und seines fi-
nanziell bedingten Nebenjobs als Klavier- und Orgellehrer, kann man nur staunen über den
Umfang seines kompositorischen Oeuvres, ganz zu schweigen von dessen Vielgestaltigkeit.
Sie ist sicher nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß er, auf der ständigen Suche nach sich
selbst, seiner eigenen musikalischen Wahrheit, sich niemals einer bestimmten stilistischen
Ideologie unterwarf - daß er als Komponist über allen Schulen stand, der seine Anregungen
nahm, wo immer sie ihm für ein bestimmtes Werk geeignet schienen, ohne sie zum fundamen-
talistischen Prinzip seiner folgenden Arbeiten zu erklären. Das erhellen letzten Endes auch
die jähen Kontraste unmittelbar nacheinander entstandener Werke, die es unmöglich machen,
eine geradlinige Entwicklung nachzuweisen. Sie sind bezeichnend für sein sich in abrupten
Gegensätzen, Sprüngen und Brüchen bewegendes Denken, seine Neugierde, sich immer
wieder auf unbetretene Territorien vorzuwagen, dem Ausprobieren immer neuer Möglichkeiten,
gerade auch was unkonventionelle Instrumentalkombinationen angeht. Es ist ein ausgespro-
chen dialektisches Denken, das seine Kompositionen auszeichnet - eine Unversöhnlichkeit der
Gegensätze, ohne jeglichen Versuch einer Beschönigung oder Beschwichtigung ihrer antago-
nistischen Kraftströme.
Sie charakterisieren seine Kompositionen insgesamt, seine unverkennbare individuelle, aus-
gesprochen dramatische Handschrift - die Kontrastspannungen zwischen vielfachem, aus
der Lautlosigkeit ganz allmählich sich herauskristallisierendem Pianissimo und gewaltigem,
raumsprengenden, ja geradezu apokalyptische Ausmaße annehmendem Fortissimo, zwischen
einzelnen, total vereinsamten Instrumentallinien und dem Dickicht massiver Clusterbildungen,
zwischen oszillierenden, wie statisch daliegenden Klangflächen und von heftigsten Peitschen-
hieben vorangetriebenen rhythmischen Parforcejagden, zwischen aufjaulenden Glissandi und
pointiert deklamierten auf- und absteigenden Skalen... Es geschieht ungeheuer viel in seinen
Kompositionen - doch immer in klar gegliederten, überschaubaren, oft geradezu architekto-
nisch konzipierten Abschnitten.
Besonders haben es ihm die Pauken angetan, und es ist abenteuerlich, zu verfolgen, welch mi-
nuziöse Differenzierungen er seinen Schlagzeugern abverlangt. Aber auch das Klavier scheint
bei ihm oft zur Gruppe der Percussionisten zu gehören. Jedenfalls ist es der Rhythmus, der
quasi als Atem seiner Kompositionen fungiert, der ihre Vitalität determiniert. Dazu liefern die
eindeutig von ihm bevorzugten Blechbläser gleichsam die Würze - auffallend oft die Posaunen,
aber auch das Horn, dessen Bevorzugung offenkundig seiner Freundschaft mit dem Hornisten
Hermann Baumann zu verdanken ist. Jedenfalls definieren die Bläser die pflügersche Klangiden-
tität in weit stärkerem Maße als es die Streicher tun (von denen immerhin Joachim Schall, ers-
ter Konzertmeister des Stuttgarter Staatsorchesters, zu seinem engeren Freundskreis gehörte).
Manchmal hat man den Eindruck, daß sich die kühnen Farbmischungen seiner Harmonien aus
der Erfahrung seiner Praxis als Organist herleiten, wenn er instrumentiert wie ein Organist, der
sich der verschiedensten Register bedient. Das ist ganz offensichtlich der Fall bei seinen großen
Orchesterwerken - den Konzerten für Horn, für Violine und Violoncello sowie dem Klavierkonzert
und der „Strahlenden Pforte“ mit ihren sich jagenden Tonleiterskalen und den katraktartigen
Explosionen.
Immer wieder hat er seine eminente Praktikabilität bewiesen,, die auf seiner souveränen hand-
werklichen Perfektion basierte: wenn es beispielsweise galt, ein Werk für eine ungewöhnliche Besetzung zu komponieren, um so den ausführenden Musikern zu einem abgerundeten Pro-
gramm zu verhelfen (die „Metamorphosen“ für Violine, Klavier, dreizehn Bläser und Schlag-
zeug als Pendant zu Alban Bergs berühmtem Kammerkonzert von 1925 oder die „Rhapsodie
für Violine, Horn und Klavier“ als Ergänzung zu Brahms´ Horn-Trio, op.40, und Ligetis Trio von
1982).
Zu den aus einem derart dezidierten Auftrag entstandenen Werken gehört auch Pflügers Er-
gänzung von Renato Zanellas Ballett „Black Angels“ um einen Epilog, den Zanella ursprünglich
zu einer Musik von Lutoslawski choreographiert hatte, der dann jedoch die Aufführungsgeneh-
migung verweigerte, so daß Zanella Pflüger beauftragte, zu der bereits existierenden Choreo-
graphie eine Musik zu komponieren, die ihr hautnah angepaßt sein sollte - kompositorische
Maßarbeit, die Pflüger denn auch mit staunendswerter Einfühlung geliefert hat.
Einen ähnlichen tollkühnen Akt stellte dann seine im Auftrag der Ludwigsburger Festspiele
komponierte Oper „Die Perle“ dar. Dabei handelte es sich um eine Kammeroper, die Pflüger zu
einem Libretto nach Antoine de Saint-Exupérys berühmtem Märchen „Der kleine Prinz“ kom-
poniert hatte. Auch hier verweigerte der Verlag, beziehungsweise die Erben von Saint-Exupéry
die Aufführungsrechte, was Pflüger dazu zwang, sich nach einem neuen Libretto umzusehen,
das der schon vorliegenden Partitur angepaßt werden mußte - eine Tour de force der Mimikry,
die unter den schwierigen Verhältnissen bewundernswert gelang.
Um so mehr bleibt zu bedauern, das es ihm, mit seinem ausgesprochenen Flair für die Bühne,
nicht vergönnt war, die schon von ihm in Angriff genommene Oper nach Büchners „Leonce und
Lena“ zu vollenden - er hinterließ sie bei seinem allzu frühen Tod als Torso.


Überblickt man sein Gesamtwerk, registriert man das Gewicht, das seine Wortvertonungen
einnehmen. Immer wieder hat er sich der Lyrik zugewandt - Angelus Silesius, Goethe, Heine,
Hölderlin, Nietzsche, Hesse, Brecht, Benn, Beckett, Celan... Bestärkt wurde er darin zweifellos
durch seine freundschaftlichen Beziehungen zu den Baritonisten Bruce Abel und Siegmund
Nimsgern (es fällt auf, daß sich unter seinen zahlreichen Liedkompositionen nur ausnahmswei-
se solche für hohe Stimmen befinden). Illustrativ-illusionistische Klangwirkungen scheinen ihm
am wenigsten zu interessieren - um so stärker ist ihr Effekt, wenn er sie gezielt und pointiert
einsetzt.
Immer geht es ihm um absolute Wortverständlichkeit, die zu erzielen ihm jedes Mittel recht ist,
vom tonlosen Parlando bis zum ekstatischen Schrei - die Ansprüche an die Expressivität des
Sängers sind enorm. Was in einer sehr frühen Kritik von seiner Auseinandersetzung mit Texten
gesagt ist, gilt unverändert auch für seine letzten Arbeiten: daß die Musik gewissermaßen die
Texte hinterfragt, daß sie eindringt in die Nischen, die der Sprache nicht zugänglich sind, dass
sie zum Klingen bringt, was nicht gesagt werden kann.
Noch aufschlußreicher als sein „Memento Mori“, sein mit Trakl-Texten interpoliertes Requiem
für tiefe Stimme, Chor und Orchester, das den Solisten als Textdeklamator mindestens so for-
dert wie als Sänger, ist in dieser Hinsicht seine Komposition „...eisig ist die welt aussen...“ für
Tenor, Horn, Schlagzeug und Streicher aus dem Jahr 1997. Auch dies ist wieder ein Stück, das
als Pendant zu einer anderen Komposition entstanden ist: der „Serenade für Tenor. Horn und
Streichorchester“ (ohne Schlagzeug) von Benjamin Britten. Ihm liegt eine Auswahl von Texten
des autistischen Lyrikers Birger Sellin zugrunde, von der Pflüger gesagt hat, daß sie ihn gera-
de durch ihre fragmentarische Expressivität angesprochen und herausgefordert hätten. Dabei
traf er bewußt eine Auswahl solcher Texte, „die nicht nur auf das persönliche Schicksal des
Autisten Bezug nehmen, sondern solche über die um sich greifende Sprachlosigkeit der heuti-
gen Welt („ich liebe die Sprache über alles, sie vermittelt zwischen den Menschen“), die Verein-
samung („Tränen mitten in der Wüste“), Gefühlskälte („eisig ist die Welt außen“) und auch über
die Isolierung von Behinderten („ohne Sprache sind wir tote isolierte ausgestossene Apparatu-
ren“).“
Pflügers Kommentar über dieses zentrale Werk seines Oeuvres, dessen Uraufführung ziemlich
genau ein Jahr vor seinem frühen Tod stattfand, lesen wir heute quasi als Vermächtnis seines
kompositorischen Credos, wenn es dort heißt: „Ein wesentlicher Aspekt der Komposition sind
die Schlagwirkungen, so wird - neben der Verwendung der eigentlichen Schlagzeuginstrumen-
te Pauken, Becken, Tamtam, Holzblock, Triangel - auch der Schalltrichter des Horns und der Kor-
pus der Streichinstrumente zum Schlaginstrument. In der Vertönung ist das Abrupte dominant,
das Abbrechen, der Aufschrei und gleichzeitig weitestgespannte Melodik in Gesangsstimme und
Horn. Erst am Ende des vertonten Zyklus, wo es heißt: ´aus tausend inneren Quellen werden
wasserbäche hervorströmen und innere inselweisheit ausströmen ein heilendes wasser ergießt
sich über die Wunden´ dürfen sich alle Instrumente mit dem Sänger zu einem fast hymnischen
Gesang aufschwingen.“



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