Hans Georg Pflüger, deutscher Komponist

Hans Georg Pflüger, deutscher Komponist Hans Georg Pflüger, deutscher Komponist

Werner M. Grimmel

Stuttgarter Zeitung vom 22.7.1993


Legitim

An der Spitze der Pyramide ist nur für wenige Platz. Hätte es lediglich mit der Qualität der Wer-
ke eines zeitgenössischen Komponisten zu tun, dann wäre der 1944 in Schwäbisch Gmünd
geborenen und heute in Bietigheim lebende Hans Georg Pflüger eigentlich unter diejenigen
innerhalb seiner Generation zu zählen, die Anspruch auf einen solchen Platz haben. Denn was
von Pflügers kompositorisch OEuvre seit einigen Jahren bei Bayer Records auf inzwischen
drei CDs veröffentlicht worden ist, kann sich neben Werken bekannterer Altersgeossen durch-
aus hören lassen. Aber Pflüger, als Komponist Schüler von Badings und Fortner und 1977
Stipendiat der Villa Massimo in Rom, macht nicht viel Aufhebens von sich. Die Uraufführun-
gen von Pflügers Werken finden vielmehr meist unauffällig im Ländle und nicht auf der großen
Weltbühne statt. Hier aber sind es immerhin die besten Orchester, Ensembles und Solisten, die
diese Werke spielen. Namen wie Gerhard Oppitz (der erst kürzlich Pflügers Klavierkonzert aus
der Taufe hob), Siegfried Palm, Bruno Canino, Dieter Klöcker, Hermann Baumann oder Dennis
Russel Davies(deren hervorragende Interpretationen Pflügerscher Werke auf CD vorliegen)
sprechen für sich. Neben ihnen sind auf zwei CDs mit den Titel „Kompositionen“ (BR 100 040)
und „Strahlende Pforte“ (CAD 800 885, die bei Bayer Records herausgekommen sind, auch
das Radio Sinfonieorchester Stuttgart, die Stuttgarter Philharmoniker, der Südfunkchor und das
Melos-Quartett mit sinfonischen und kammermusikalischen Werken Pflügers zu hören.
Ein besonderer Schwerpunkt in Pflügers Schaffen ist jedoch das Kunstlied, und es spricht für
ihn, daß er sich in einer Zeit, in der viele Kollegen diese Gattung als hoffnungslos veraltet, ad
acta gelegt hatten, allen aktuellen Trends zum Trotz intensiv mit ihr befaßt hat. Seine größeren
Liederzyklen „Lazarus“ (1977) - 10 „Lammentationen aus der Matrazengruft“ nach Heyne und
„Fragmente“ (1978) nach Hölderlin sind eindrückliche Auseinandersetzungen mit der jeweiligen
dichterischen Vorlage und zählen sicher zu den besten Werken dieser Art aus den siebziger
Jahren. Sie sind jetzt zusammen mit drei kleinen Zyklen nach Texten von Theobaldy, Becket,
und Benn ebenfalls auf CD erschienen. Pflüger erweist sich hier als legitimer Erbe Eislers, dem
es in den vierziger Jahren gelungen ist, die romantische Kunstliedtradition in die moderne Mu-
sik herüberzuretten. Bruce Abel, Siegmund Nimsgern und der zur Zeit als Stuttgarter Wozzeck
erfolgreiche John Bröcheler, sind begleitet vom Komponisten selbst und von Ed Gerits (Klavier)
und Wolfgang Rösch (Violine), die vollkommenen Interpreten. müg
Hans Georg Pflüger: „Liederzyklen“ Bayer Records 100 010



Werner M. Grimmel


Der eigene Weg ist das Ziel

Der Komponist Hans Georg Pflüger (1944–1999)


Hans Georg Pflüger wurde am 26. August 1944 in Schwäbisch Gmünd geboren und erwarb
sich in jungen Jahren autodidaktisch erste Kenntnisse im Klavier- und Orgelspiel. 1961 war er
Preisträger beim Klavierwettbewerb des Deutschen Tobkünstlerverbands in Stuttgart, 1962 ver
- öffentlichte er erstmals eigene Kompositionen (einige Lieder). Nach dem Abitur studierte er von
1965 bis 1971 Komposition bei Henk Badings an der Musikhochschule Stuttgart, ab 1968 auch
Orgel bei Karl Richter in München. 1966 besuchte er einen Kurs in Liedgestaltung bei Hubert
Giesen in Salzburg, 1967 einen Meisterkurs für Komposition bei Wolfgang Fortner in Köln.
1970 erhielt er ein Stipendium der Markelstiftung und wirkte als Organist an der Liebfrauenkir-
che in Stuttgart. 1972 ging er als Stipendiat der italienischen Regierung nach Siena, um dort
an der Accademia Chigiana bei Fernando Germani Orgel zu studieren. Im selben Jahr absol-
vierte er in Regensburg sein kirchenmusikalisches Diplom. Anschließend studierte er an den
Universitäten in Tübingen und Freiburg Musikwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte.
1974 erhielt er das Orgeldiplom an der Musikhochschule in Wien, 1977 stellte er eine umfang-
reiche analytische Arbeit über die beiden Fassungen von Hindemiths „Marienleben“ fertig und
verbrachte dann als Stipendiat der Villa Massimo einige Zeit in Rom.


Für die kompositorische Selbstfindung Pflügers, der bis dahin mit einigen kleineren Liederzyk-
len (nach Hölderlin, Brecht, Nietzsche, Goethe und Silesius) und Kammermusik hervorgetreten
war, vorwiegend aber kirchenmusikalisch gebundene Chor- und Orgelwerke veröffentlicht hat-
te, war dieser Rom-Aufenthalt von entscheidender Bedeutung. Damals entstand neben weite-
ren Liedern auch der zehnteilige Heine-Zyklus „Lazarus“ für Bariton und Klavier. 1978 erhielt
Pflüger, der nunmehr das Komponieren als seine Hauptaufgabe ansah, ein Stipendium der
Kunststiftung Baden-Württemberg und vollendete den Zyklus „Fragmente“ für Bariton und Kla-
vier nach späten Texten von Hölderlin, den er zu seinen wichtigsten Werken zählt. 1979 nahm
er an einem Dirigierkurs bei Otmar Suitner in Weimar teil.


In den achtziger und neunziger Jahren erhielt Pflüger zahlreiche Kompositionsaufträge. 1983
wurde von den Stuttgarter Philharmoniker unter Hans Zanotelli sein Hornkonzert uraufgeführt
(Solist: Hermann Baumann), 1988 dirigierte Dennis Russell Davies in Bonn die Uraufführung
der „Metamorphosen“ für Violine, Klavier, 13 Bläser und Schlagzeug, 1989 folgten in Stuttgart
die Uraufführungen des Konzerts für Violine, Violoncello und Orchester mit Saschko Gawriloff,
Siegfried Palm und dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter Werner Andreas Albert und
des Orchesterwerks „Strahlende Pforte“ mit den Stuttgarter Philharmonikern unter Wolf-Dieter
Hauschild, 1993 hob Gerhard Oppitz mit der Badischen Staatskapelle unter Günter Neuhold
das Klavierkonzert (1991) aus der Taufe. Im selben Jahr wurden beim Steirischen Herbst „3
Bagatellen“ für Streichquartett (1991) präsentiert, und das Staatstheater Stuttgart bestellte bei
Pflüger die Ballettmusik „Balance“ für Klavierquintett zum Ballett „Black Angels“ von Renato
Zanella, die nach ihrer Stuttgarter Uraufführung an der Wiener Staatsoper 1996 ihre österrei-
chische Erstaufführung erlebte.


1994 kam bei den Ludwigsburger Schloßfestspielen die Oper „Die Perle“ auf die Bühne, 1995
folgte in Bietigheim die Uraufführung des Requiems „Memento mori“ (Texte: Missa pro defunc-
tis, Georg Trakl) für tiefe Stimme, Chor und Orchester. 1996 wurde in Stuttgart wurde die „To-
desfuge“ (Paul Celan) für Bariton, Violine, Klavier und Schlagzeug (1995) uraufgeführt, 1997
entstand im Auftrag der Deutschen Kammerakademie „... eisig ist die welt außen ...“ für Tenor,
Horn und Streichorchester nach Texten der autistischen Lyrikers Birger Sellin. Als Liedbeglei-
ter, Kammermusiker und Organist kümmerte er sich nicht nur um die Pflege des Repertoires,
sondern immer wieder auch um die Interpretation eigener Werke, die er allein oder mit renom-
mierten Solisten wie Hermann Baumann, Saschko Gawriloff, Siegmund Nimsgern und Lucia
Popp aufgeführt und teilweise auch auf Schallplatte oder CD eingespielt hat. Am 9. März 1999
ist Pflüger, der seit 1950 in Bietigheim lebte, ganz unerwartet nach kurzer schwerer Krankheit
gestorben.


Pflügers Werkverzeichnis umfaßt über sechzig Kompositionen und alle wichtigen musika-
lischen Gattungen. Prägende Vorbilder waren anfangs Brahms und Bartók, zu Beginn der
siebziger Jahre dann die Hauptvertreter der sogenannten „Zweiten Wiener Schule“, deren
Musik Pflüger eingehend studierte, ohne deshalb freilich zwölftönige Kompositionstechniken
zu übernehmen. Relevanter für sein eigenes Schaffen schien ihm die hier zu beobachtende
Vermeidung aller unnötigen, beziehungslosen Töne im Sinne jenes Ideals, dem zufolge selbst
Nebenstimmen von den musikalischen Grundgedanken der jeweiligen Komposition durchdrun-
gen sein sollten - ein Ideal, das ihm schon sein Lehrer Fortner anhand von Analysen Beet-
hovenscher Spätwerke nahegebracht hatte. Vor allem die Werke Weberns waren es nun, die
Pflüger in ihrer Beschränkung auf das Wesentliche beeindruckten. Auch aus Weberns theoreti-
schen Schriften und aus musikalischen Abhandlungen von Theodor W. Adorno („Impromptus“,
„Moments musicaux“, Texte über Beethoven und anderes) bezog er entscheidende Impulse für
seine kompositorische Arbeit.


Gegen Ende der siebziger Jahre erhielt Pflüger, dessen Stil weiterhin freier Atonalität verpflich-
tet blieb, neue Anregungen durch die Beschäftigung mit der auf achttönigen Modi basierenden
Harmonik Messiaens, wobei er sich besonders für dessen Orchesterwerke interessierte. Dass
er sich ansonsten nie um die jeweils aktuellen Trends zeitgenössischer Kunstmusik oder um
ästhetische Grabenkämpfe unter Kollegen gekümmert hat, mag mit seinen autodidaktischen
Anfängen zu tun haben, entsprach aber auch seiner ausgesprochenen Aversion gegenüber
allem Spekulieren auf marktgängige Konzepte. Daran beim Komponieren zu denken, hielt
Pflüger eher für schädlich. „Wer wen bekämpft oder favorisiert“, war ihm völlig gleichgültig.
Letzten Endes müsse jeder für sich selbst entscheiden, welchen Weg er gehen wolle. So wollte
Pflüger, der seinem Unterricht bei einem Zen-Meisterschüler viel verdankte, auch niemandem
seine eigenen, an Weberns Reduktionismus geschulten Methoden vorschreiben. Als einzige
Motivation ließ er gelten, daß jemand komponiert, weil es ihn einfach dazu drängt.


Positive Inspiration holte sich Pflüger immer wieder auch bei Dichtern und Malern. Neben Pi-
casso bewunderte er das üppige, freie Gestalten, die scheinbare Willkür, die Spontanität, die
auf Überraschungen setzende Phantasie, die traumhafte Logik eines Dalí, bei dem dennoch
alles auf das Thema bezogen sei, aber auch bei Tapies die Widersprüchlichkeit seines Mate-
rials. Einen besonderen Schwerpunkt in Pflügers Schaffen bildet das Kunstlied. Wichtig war
ihm, daß Gedichte einen Zwischenraum für Musik offenlassen. Neben den bereits genannten
Lyrikern galt seine Vorliebe Benn, Trakl, Hesse und nicht zuletzt Celan, wie die gewichtige „To-
desfuge“ für Bariton, Violine, Klavier und Schlagzeug (1995) zeigt. Seine größeren Liedzyklen
„Lazarus“ (1977) nach Heine und „Fragmente“ (1978) nach Hölderlin sind eindrückliche Auseinan-
dersetzungen mit der jeweiligen dichterischen Vorlage, die die romantische Kunstliedtraditi-
on in die moderne Musik herüberretten.


Zu Pflügers Hauptwerken gehört auch das Requiem „Memento mori“ (1995), das den solisti-
schen Gegenpart zu Chor und Orchester nicht von ungefähr einer tiefen, in bizarren Intervall-
sprüngen geführten Stimme anvertraut, die der Einsamkeit und Verlorenheit des modernen
Individuums Ausdruck gibt. Zum weitgehend düsteren Klangbild der insgesamt zehnsätzigen
Komposition tragen außerdem Kontrabässe mit C-Saite, tiefe Bläser wie Baßklarinette, Kon-
rafagott, Hörner und Posaunen und das fast ständige Grummeln und Raunen, drohende
Anschwellen oder dumpfe Pochen der Pauken bei. Die dadurch entstehende Atmosphäre
grundiert wirkungsvoll die verwendeten Texte aus der lateinischen Totenmesse und vier zwi-
schendurch mit ihnen konfrontierte „späte“ Trakl-Gedichte. Auf das einleitende „Requiem aeter-
nam“, in dem der Chor aus imitatorisch verarbeiteten Sekundschritten einen zarten Grundklang
aufbaut, folgt zunächst Trakls „Nachtlied“, das ebenso wie später die Gedichte „Das tiefe Lied“
und „Tiefe Ruhe“ nur für Solo und Orchester gesetzt ist. Erst im vorletzten Satz ist dann dem
vom Solisten gesungenen Gedicht „Crucifixus“ ein chorisch deklamiertes „Agnus dei“ unterlegt.
Hier wird der bereits im ersten Satz exponierte Kontrast zwischen Chor und schwieriger, immer
wieder in bodenlose Tiefen abrutschender Solostimme am deutlichsten.


Die Vertonungen der lateinischen Texte beziehen sich bewußt auf die jahrhundertealte Tradi-
tion der Requiem-Komposition, ohne freilich in epigonale oder gar stilkopierende Muster zu
verfallen. So beginnt beispielsweise das „Dies irae“ mit einem gespenstischen, vom Collegno-
Spiel der Streicher wie vom Ticken der ablaufenden Lebensuhr begleiteten Flüstern des Chors,
in das dann wild und ungestüm die abgehackten Rhythmen und Sforzati der Blechbläser fah-
ren. Als Ruhepunkt gibt es nach dem „Tuba mirum“ mit seiner zerklüfteten Textur einen pia-
nissimo gesummten Chorsatz, der mit seiner polyphonen Stimmführung wie ein in der Ferne
verbeigleitender, ätherisch entrückter Bach-Choral klingt. Ganz eindeutig ist der Bezug auf die
Tradition im „Sanctus“ mit seinen trompeten- und orgelstrahlenden, erweiterten D-Dur-Akkor-
den und im abschließenden, jenseitig gleißenden „Lux aeterna“.


Als letztes vollständiges Werk komponierte Pflüger auf Anregung von Dennis Russell Davies
im Auftrag der Stadt Bietigheim „Patchwork“ für Schlagzeug und Streicher. Die Partitur ist dem
Stuttgarter Kammerorchester und seinem Chefdirigenten gewidmet. Siegmund Nimsgern, ein
Freund und musikalischer Vertrauter des Komponisten, hat zusammen mit Everad Sigal in der
unvollendeten Reinschrift die wenigen noch fehlenden Angaben in den Pauken- und Schlag-
zeugstimmen „nach bestem Wissen und Gewissen analog den Vorgaben“ ergänzt. Im Vorwort
zur Partitur heißt es: „Die Stimmen des Streichorchesters sind geteilt, teilweise sind einzelne
Instrumente auch solistisch verwendet. Das Schlagzeug in kleiner Besetzung wird – zusam-
en mit den Pauken – meist nach seiner klanglichen Wertigkeit eingesetzt. Das bildnerische
Schaffen des amerikanischen Malers Jackson Pollock (1912-1956) gab den Anstoß zur Kom-
position. Wie bei seiner Malerei ist auch für die Musik – neben dem Patchwork-Gedanken
– das Durchdringen und Zerfließen von Flächen und Linien bestimmend. Dies wird als Andeu-
tung dessen interpretiert, daß Vergangenes und Unbewußt-Fernes gleichzeitig neben der Ze-
rissenheit der Gegenwart existiert. So darf diese Komposition durchaus als Hommage an Jack-
son Pollock verstanden werden.“


Die Uraufführung von „Patchwork“ fand am 8. Mai 1999 im Mozart-Saal der Stuttgarter Lieder-
halle statt. Unter der Leitung von Dennis Russell Davies gelang dem Stuttgarter Kammeror-
chester eine spannende, geradezu beschwingte Interpretation dieser eindrucksvollen Hörbilder,
deren spontan wirkende Faktur in der Tat eine akustische Entsprechung zu Pollocks Techniken
bietet. Tiefes Grummeln kommt grollend näher und mündet in eine wild aufschießende Strei-
cherfläche, begleitet von massiven Paukenschlägen. In rhythmisch griffigen Episoden vereini-
gen sich Streicher und Schlagzeug, um dann wieder vielfältig bewegten Glissandofeldern mit
reizvoll aufgerauhter Oberflächenstruktur, kontrastierenden dramatischen Abschnitten oder
einem virtuos in schwindelnde Höhen emporsteigenden Violinsolo Platz zu machen.


Unvollendet geblieben ist Pflügers Oper „Leonce und Lena“ nach Georg Büchners gleichnami-
gem Drama, ein in den späten siebziger Jahren begonnenes, nach der Ausarbeitung einiger
Szenen 1979 abgebrochenes Hauptwerk, das der Komponist in den folgenden zwanzig Jah-
ren gleichwohl nicht aus den Augen verloren hat. Immer wieder - zuletzt 1996 - erwog er ganz
konkret, sich an die Fertigstellung der Partitur zu machen, die im nachgelassenen Manuskript
- Ironie des Zufalls - an der Stelle abbricht, als Valerio sagt: „Ich bin gleich fertig.“



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